Fandom Observer 292

Holger Marks, Marburg, berichtet im Fandom Observer in der Ausgabe 292 (10/2013)

„Eine Maschine braucht doch eine Mechanik, oder nicht?“ fragt sich der junge Robert in Thorsten Küpers „Grosvenors Räderwerk“. Zahnräder, Pleuelstangen, stählerne Gehäuse, Schmieröle und dreckige Mechaniker mit großem Schraubenschlüssel vor dampfenden Motoren, die schwitzend und fluchend ihre Arbeit verrichten. Das ist ein Bild aus der guten alten Zeit, als fachkundige Menschen noch in der Lage waren mit ihrer Hände Arbeit die Maschinen und damit die Welt zu reparieren.

Diese Zeit ist vorbei, vergangen, aber nicht vergessen. Sie lebt weiter. In den Phantasien der Retro-SF und des Steampunks. Fast scheint es wie ein unlösbares Paradoxon: rückwärtsgewandte Zukunftsentwürfe, Geschichten, die eine vergangene Zukunft beschreiben, oder eine die hätte sein können. Als „(...) anachronistische Collage von Ungleichzeitigem“ beschreibt Heinz Wipperfürth in einem kurzen erläuternden Beitrag diesen zwar nicht unbedingt ganz neuen, aber doch momentan sehr angesagten Trend. Und ist die Verführung nicht groß, den unzähligen Möglichkeiten und Spielereien des Subgenres zu erliegen und selbst einmal ein „Was wäre wenn?“ auszuprobieren? Eine prall gefüllt neue Themen-Ausgabe von EXODUS wäre schon Beweis genug. Aber es ist ja nur ein Beispiel und ein Trend, dem auch EXODUS folgt. Retro-SF und gar Steampunk sind so etwas wie der Sommerhit einer Saison, die nicht nach Jahreszeiten gezählt wird.

Ob es allerdings immer nur nostalgische Gefühle sind, die Sehnsüchte nach einer einfachen Welt, in der die „Technik noch für jeden verständlich war“, die zu dieser Form der „Vergangenheitsbewältigung“ führen, kann auch bezweifelt werden. Ebenso wie nicht jeder Mensch des vorindustriellen Zeitalters die Funktionsprinzipien einer Dampfmaschine verstehen konnte. Dampf, diese feuchte, wabernde, kaum zu fassende Substanz, soll eine schwere Lokomotive antreiben? Kann man glauben ... Aber in einem hat Heinz Wipperfürth recht: Damit begann es, die Entfremdung des Menschen von der Technik. Er schuf sich eine Lebenswelt, die ihm zunehmend fremder weil unverständlicher wurde, der er aber gleichzeitig auf Gedeih oder Verderb ausgeliefert war und ist.

Und so kann Retro-SF oder Steampunk in besonders guten Momenten auch eine Kritik an der gesellschaftlichen Entwicklung seit der industriellen Revolution sein. So zum Beispiel in dem schon erwähnten „Grosvenors Räderwerk“ von Thorsten Küper. Man kann die Geschichte als eine Parabel auf die weit verbreitete Kinderarbeit, in den Bergwerksstollen Großbritanniens, zu Beginn der industriellen Revolution lesen. Zum Aufbau einer Rechenanlage nutzt der skrupellose Grosvenor auf eine diabolische, nicht näher beschriebene Art die Energie von Kindern. Der junge Robert, ebenfalls von diesem Schicksal bedroht, kann auf das Luftschiff von Ada Lovelace und Isambard Kingdom Brunel fliehen.

„Name dropping“ auch eine sehr gut funktionierende und oft genutzte Möglichkeit, der vergangenen Zukunft nicht nur Authentizität, sondern eine besondere Note des Wiedererkennens und der Vertrautheit zu geben. Thorsten Küper bemüht dabei nicht willkürlich irgendwelche historische Personen. Ada Lovelace als Tochter von Lord Byron und Weggefährtin von Charles Babbage passt genauso in das Szenario wie Brunel,

der Baumeister des Thames-Tunnels und Ingenieur von Brücken und Eisenbahnen. Er stellt diesen realen und in gewisser Weise positiven Personen seinem „mad -scientist“ gegenüber. Ach ja, und Robert, die jugendliche Hauptperson ist auch nicht irgendwer ...

Vielleicht könnte man „name dropping“ als vorherrschendes Gestaltungsmerkmal der Retro-SF ansehen. Helmut Ehls, der sich als versierter Kenner der Romane Karl Mays erweist, überlegt in „Am Set von ,Der Schatz im Silberkanal‘“, was May geschrieben hätte, wenn er ein Jahrhundert später als SF-Autor seine Brötchen hätte verdienen müssen. Die Antwort liegt auf der Hand und schließlich wird das schöne Werk „Old Laserhand und die Grünhäute vom Mars“ auch noch verfilmt, natürlich von Harald Reinl, produziert von Reginald Windland – ein wenig künstlerische Freiheit muss schließlich sein. Auch wenn die Geschichte vielleicht nicht den historischen Tiefgang aufweist, so ist sie doch ein großer Spaß und persifliert recht eindrucksvoll Mays Bestreben, den Ruf als Kolportage-Autor los zu werden.

Bekannte Namen tauchen auch in Arnold Sprees „Das Schäuble“ auf, von denen „Turbo-Rezensent“ Illmer nur einer von einigen ist. Ein unschuldiges Wesen, selbst als „Schäuble“ bezeichnet, gerät auf der Suche SEITE 6 LESERBRIEFE & REZENSIONEN SEITE 7 nach seiner Nahrung genannt „Shund“ an die Besatzung der STAR QUEST, unter der sich u. a. ein K. H. Scheer, ein Kurt Brand oder ein Prof. Heinz Haber befindet.

Auch hier lebt die Geschichte von der absurden und komischen Ausgangssituation und der gekonnten mit vielen Anspielungen versehenen Umsetzung der Geschichte. Einer ganz besonderen „Person“ der literaturgeschichte widmet sich Matthias Falke in seiner Geschichte mit dem langatmigen Titel „Die spektakuläre und heldenmütige Entführung der originalgetreuen Lokomotive Emma.“ Die Gruppe Jugendlicher, die das Museum am Rand der Dimensionsschranke betritt, ist nicht so harmlos wie der erste Blick vermuten lässt. Natürlich gelingt das Unternehmen und die Entführer fliegen mit Emma in einen staubigen Westen. Spannend, wenn auch nicht ganz unvorhersehbar flicht Matthias Falke persönliche Auseinandersetzung und Abenteuer zu einer stimmigen Geschichte, deren angedeuteter Hintergrund vermuten lässt, sie könne Teil eines weitaus längeren Werkes sein.

Die Ideen und Erfindungen nehmen kein Ende in dieser EXODUS-Ausgabe. Da ist noch die Emerald-Anlage zu nennen, die Philip Schwarz dazu verwendet, Luftschiffe fliegen zu lassen. In Frank Neugebauers Mischung aus viktorianischer und futuristischer Geschichte tauscht der Schlangenkönig Kristalle gegen Milch. Kristalle, die eine seltsame Strahlung abgeben. Und in Olaf Kemmlers „Ein Koffer voller Gedanken“ bestimmen diese Gedanken das Schicksal seines Protagonisten – zum Guten und leider auch zum Bösen. Und Ulf Hildebrandt bemüht nicht nur Nicola Tesla, sondern auch einen Sohn von Kapitän Nemo, der vergeblich versucht, die Welt vor den Wesen des Äthers zu bewahren.

Die großen alten, dunklen, diabolischen Wesen der Unterwelt können in einer Sammlung, die sich dem Golden Age der Phantastik der fünfziger und sechziger Jahre verpflichtet fühlt, natürlich nicht fehlen. Manchmal reicht auch hier schon ein Name. Der Professor aus Arkham, der zwei unbedarfte Studenten in seinem Observatorium beschäftigt, hat natürlich ganz andere Absichten. Nur diesmal stammt die Bedrohung nicht aus der Unterwelt, sondern sie kommt von den Sternen. Steffen König gelingt mit „Titans Flüstern“ nicht nur eine kleine Hommage an Lovecraft, er verbindet auch Mystizismus mit Science Fiction und liefert damit eine weitere Variante der Retro-SF ab. „Saudade“ ist ein portugiesisches bzw. galizisches Wort für „Weltschmerz“ oder „Wehmut“ und steht u. a. für ein nostalgisches Gefühl, einen geliebten Menschen verloren zu haben. Und genau dieses Gefühl beschreibt die gleichnamige Geschichte von Thomas Franke. Hartmut Kasper schickt seinen ruhelosen Helden in das unheimliche Restaurant „Der grüne Jademond“. Eine stimmungsvolle Studie mit leicht angehauchtem philosophischen Hintergrund. Fehlt noch eine Geschichte: „Die Lem-Variable“ von Martin Beckmann. Ein gescheiterter Zeitungsreporter fährt zurück in seine Heimatstadt und kommt dabei einer ungeheuerlichen Alien-Verschwörung auf die Spur.

Wie immer entscheidet der persönliche Geschmack oder die Präferenz für bestimmte Szenerien, welche der Geschichten man in den Kreis der persönlichen Favoriten aufnimmt. Nur schlechte oder auch nur mittelmäßige Geschichten findet man keine. Und wenn ein Werk das kritische Lektorat von Heinz Wipperfürth, Hans Jürgen Kugler und Fabian Tomaschek überstanden hat, sind auch sämtliche stilistische Ungenauigkeiten ausgemerzt. Bliebe für den verzweifelten Rezensenten vielleicht noch die Suche nach Tippfehlern...

Der zweite Grund, warum jede EXODUS-Ausgabe ein wahrer Genuss ist, ist das hervorragende und klare Layout sowie die überaus exzellenten Grafiken und Bilder. Das Titelbild von Pierangelo Boog ist ein virtuoser inhaltlicher Opener, der die SF der fünfziger Jahre mit dem Golden Age der Comic-Helden zu verbinden scheint. Viele weitere hervorragende Bilder und Grafiken, extra zur Illustration der jeweiligen Geschichte angefertigt, durchziehen das ganze Heft. Man kann stundenlang darin blättern, ohne sich satt zu sehen.

Ein kompletter visueller Retro-Flash erwartet den Betrachter aber in der diesmal sehr umfangreichen Galerie. Sie ist Rudolf Sieber-Lonati gewidmet. Der Künstler lieferte über fünfunddreißig Jahre lang die Titelbilder von Heftromanen unterschiedlichster Genres und hat damit zumindest in Deutschland das Bild des Genres maßgeblich geprägt. Für UTOPIA-Romane und Zauberkreis-Hefte zauberte er Bilder, die sowohl Faszination wie auch das Grauen des Weltraums ausdrückten und die sich um technologische Machbarkeit wenig sorgten. Auch das ein Credo der Retro-SF: Alles ist möglich! Oder sagen wir lieber fast alles. Denn an dieser Ausgabe von EXODUS vorüberzugehen, ohne sich ein Exemplar zu sichern, wäre ein Frevel ganz besonderer Art und im Prinzip voll und ganz unmöglich!

Hinweis: Gleiche Rezension erschien ebenfalls in Andromeda-Nachrichten, Ausgabe 244, 01/2014.