Im Vergleich zu den lockeren letzten Themenausgaben haben die drei „Exodus" Herausgeber ihren Autor mehr oder minder freie Hand gelassen. Herausgekommen ist eine breit aufgestellte Anthologie mit Werken der bekannten Stammautoren sowie einer Reihe von Debütanten. Ergänzt wird die Ausgabe nicht nur durch die zahlreichen, sehr guten Illustration, die Thomas Franke gewidmete Galerie, sondern auch durch Lyrikbeiträge, denen zuletzt Wolfgang Jeschke in seinen Heyne Anthologien einen vergleichbar breiten Raum eingeräumt hat.

Rolf Krohns "Die Schraube" ist einer dieser kurzen Texte, dessen Idee keine Geschichte in dieser Form tragen kann. Die Besatzung eines Raumschiffes, dessen Aufgabe die Säuberung des Alls vor der Raumfahrt gefährlichen Meteoriten und anscheinend auch Weltraumschrott ist, findet eine Schraube und dirigiert sie an Bord des Raumschiffes. Die Herkunft der Schraube ist unbestimmt, vielleicht sogar nachhaltig unbestimmbar. Handelt es sich um einen ersten Kontakt mit dem Müll von Fremdwesen. Stimmig geschrieben wirkt "Die Schraube" eher wie eine Impression.

Mit dem gläsernen Menschen in der nahen Zukunft beschäftigen sich Michael Iwoleit in "Opinion Engineering" und Olaf Lahayne in „Cirque du Courant". Profis verstehen sich in Iwoleits dunkler Zukunft darauf, die Integrität eines Menschen per Auftrag im Netz komplett zu zerstören. Detailliert beschreibt der Autor, wie ein extra zusammengestelltes Team innerhalb einer kurzen Zeitspanne dskretierendes Material mittels williger, oberflächlich arbeitender Sender verteilt. So faszinierend und packend diese Vorgehensweise ist, wirkt der persönliche Hintergrund des Protagonisten stark konstruiert und die Implikation von berechtigter Paranoia zu wenig überzeugend extrapoliert. Das ein Hacker/ Manipulator dieser offensichtlichen Güteklasse die Herkunft seiner Freundin nicht gründlicher recherchiert hat, ist unglaubwürdig.
Auch Lohaynes „Cirque du Courant" kann seine gute Grundidee nicht hundertprozentig in eine solide Geschichte umsetzen. Beim Besuch eines neuartigen Zirkus wird das Publikum mittels modernster Technik nicht nur in das Geschehen auf der Bühne virtuell „eingebunden", sondern dank der alle Daten speichernden Gesundheitskarten zu einem gläsernen Menschen. Gleichzeitig versucht der Autor das vordergründig gutmütige Denken und teilweise Handeln der Anarchisten als Opportunismus zu entlarven.
Beide Texte überzeugen aber in der Integration gegenwärtiger und leicht futuristischer Technik in eine Gesellschaft, die intellektuell nicht reif genug oder besser zu naiv ist, um Licht und Schatten differenziert zu betrachten.

Michael Tillmanns „Münchhausen- Planet mit leicht überwindbaren Zäunen" ist stimmungstechnische eine dunkle Geschichte, in der viel Potential steckt. Die Science Fiction hat sich seit den Pulpzeiten immer wieder mit Gefängnisplaneten bzw. Gefängnissen auf unwirtlichen Welten beschäftigt. Allerhöchstens hintergrundtechnisch fügt der Autor neue Aspekte hinzu. Die bitterböse Ironie seines Endes steht im Widerspruch zu dem phantastisch archaisch erscheinenden Transport, der eher an eine Alptraumvision denn die Realität erinnert. Auch Armin Möhles „Die Maschine der Weisen" leidet unter zu wenig überzeugenden Variationen einer altbekannten Idee. Die Alchemisten haben recht gehabt. Mittels modernster Technik kann Gold künstlich erschaffen werden. Natürlich nimmt die katholische Kirche diese Erfindung unter ihre Fittiche. In Armin Möhles Gegenwart scheint sie zumindest in dem aufgezeigten Szenario übermächtig zu sein. Der Hochmut des künstlichen Goldes soll laut Epilog der Fall der Kirche sein, während die Auswirkungen für die Weltwirtschaft ernst, aber beherrschbar gewesen sind. Hier unterschätzt der Autor die wirtschaftliche „Intelligenz" der Kirche, die das falsche Gold schleunigst gegen harte Waren umgetauscht und damit der Weltwirtschaft schwerere Schäden als vom Autoren impliziert zugefügt hätte. Das eigentliche Ende der Geschichte ist vom ersten Augenblick an erkennbar. Diese Schwäche gleicht der Autor ein wenig durch pointierte Dialoge aus.
Klaus N. Fricks „Im Käfig" ist eine der längsten Texte dieser Ausgabe. Eine junge nackte Frau Jennifer findet sich neben Paul in einem Gefängnis, das wahrscheinlich von Außerirdischen als eine Art Zoo gebaut worden ist. Trotz ständiger unsichtbarer Überwachung kommen sich Jennifer und Paul näher. In Bezug auf die Grundidee reiht sich Klaus N. Fricks Geschichte in einer Reihe der hier gesammelten Texte ein: sie wirkt nicht unbedingt neu oder originell. In Bezug auf seine Protagonisten gelingt es aber dem Autoren, Sympathien im Leser zu wecken. Handlungstechnisch verweigert Klaus N. Frick allerdings Antworten auf die sich im Verlaufe der Geschichte ergebenden Fragen. Aus diesem Grund überzeugt „Im Käfig" eher auf einer emotionalen denn rationalen Ebene.

Auch „Target No. 6" aus der Feder Wolf Wellings versucht eine bekannte Idee zu variieren. Ein sadistischer Psychopath wird auf eine islamistische Revolutionsführerin angesetzt. Während er sonst seit frühster Kindheit erst Tiere und dann Menschen bestialisch gefoltert hat, soll er die Frau nur töten. Im letzten Kapitel dreht Wolf Welling seine Prämisse zweimal vollständig um. Das nur vordergründig zynische Ende wird zu wenig durch die Figuren vorbereitet und die Idee der Selbstmörder im Namen Allahs pervertiert, ohne das es eine nachhaltig überzeugende Begründung gibt. Solide, aber ein wenig distanziert geschrieben erscheint „Target No. 6" wie eine gut ausgestaltete Hülle, der das „Fleisch" fehlt. Reinhard Kleidls melancholische „90 Grad" handelt von der Sehnsucht nach den Sternen, die keine besseren Menschen gebiert. Stimmungstechnisch eine der interessanteren Geschichten wünscht man sich mehr von den Charakteren zu erfahren.

Zu den längsten Texten der vorliegenden „Exodus" Ausgabe gehört Bernd Karwath „Va Loi". Nach einem sehr guten, traurig stimmungsvollen Auftakt verliert sich der Autor ein wenig in seinem Plot. Nach der Beerdigung eines Freundes trifft der Protagonist auf eine nackte Frau, die möglicherweise aus der Zukunft/ einem Paralleluniversum zu ihm gekommen ist. Bernd Karwath hat sich auf ein schwieriges Terrain – der plötzliche Tod eines vertrauten Menschen – gewagt, kann aber den sehr guten Auftakt nicht konsequent extrapolieren und das Ende der Geschichte wirkt ein wenig zu stark konstruiert.

Sven Klöpping rundet den Reigen von guten Ideen, die zu oberflächlich oder besser zu wenig nachhaltig extrapoliert worden sind, mit „Morpheus im Underground" ab. Alleine die beiden Auftaktkapitel sind originell und zynisch zu gleich. Realität und Virtualität werden nicht nur vertauscht, ein Wechsel zwischen den Welten kostet Steuern. Leider kann der Autor die Dynamik und Originalität der ersten Kapitel nicht ganz durchhalten und reduziert seinen Plot auf eine Reihe von Versatzstücken, die man leicht variiert schon in anderen Texten gelesen hat.

„Nach der Ölpest" aus der Feder Heidrun Jänchens ist ein ironischer Seitenhieb auf die Retter bzw. die Rettung, die alles noch viel schlimmer macht. Vor Jahren ist schon im Heyne- Verlag ein Roman mit dem treffenden, damals noch rein utopischen Titel „Die Plastikfresser" erschienen. Pointierte Dialoge und eine trotz der Konzentration auf wenige Charaktere globalisierend wirkende Ausgangslage machen die Geschichte zu einem Höhepunkt der an Ideen nicht armen vorliegenden „Exodus" Ausgabe.

Axel Kruse schließt die Ausgabe mit einem futuristischen Krimi „Doppeltes Spiel" ab. Hier bedient er sich den klassischen scheinbar britischen Vorlagen. Ein Mann meldet das Verschwinden seiner frisch angetrauten sehr reichen Frau, die von ihrem privaten Asteroiden aus zum Einkaufen mit einem Jumper los geflogen ist. Beim Eintreffen der Polizei präsentiert sich plötzlich eine attraktive dem Mann unbekannte Frau als die Verschwundene. Am Ende wirkt die Auflösung des Rätsels ein wenig zu stark konstruiert, in einem alten Kriminalroman hätte es ohne die technischen Hilfsmittel der Gegenwart und wahrscheinlich der Zukunft besser funktioniert, zumal Axel Kruse die Verwirrung des Mannes ganz bewusst nur aus einer subjektiven Perspektive zeigen kann, um die Pointe nicht zu verraten.

Schon in „Exodus" 16 kam Thomas Franke die Ehre einer intensiveren Betrachtung seines Werkes zu. Vielleicht hätten seine futurischen, aber technisch dem letzten Jahrhundert entlehnten Zeichnungen eher zum Thema der nächsten Ausgabe (Revival SF und Steampunk) gepasst. Wolfgang Jeschke leitet gekonnt die drucktechnisch wieder einmal sehr überzeugende Galerie mit schönen Bildern Thomas Franke ein, die von einem auffälligen Titelbild dieser Ausgabe sowie einem typischen Thomas Franke als Backcover gut abgeschlossen wird.

Die Lyriksektion besteht aus Texten von Erik Simon, Gerd Maximovic oder Gundula Sell. Das Spektrum reicht wie bei den Graphiken von klassisch bis modern. Die Geschichten sind wie in den bisherigen Ausgaben sehr gut von Crossvalley Smith, Hubert Schweizer, Gerd Frey oder Manfred Lafrentz – um nur einige zu nennen – sehr überzeugend und die Stimmung der einzelnen Geschichten gut untermalend graphisch begleitet worden. Auch die Druckqualität ist überdurchschnittlich gut. Wie schon angesprochen ist das Ideenspektrum der vorliegenden Ausgabe mit einem Schwerpunkt auf der Science Fiction sehr breit. Stilistisch sind alle gut bis überdurchschnittlich mit sehr unterschiedlichen Stilrichtungen von klassisch geradlinig bis verspielt in einem engen Rahmen experimentell verfasst. Viele der Geschichten „leiden" aber auch ein wenig unter ihrer Kürze, welche den guten Ideen nicht gerecht wird. Andere können die Qualität der packenden Auftaktkapitel nicht bis zum Ende durchhalten. Zusammengefasst stellt „Exodus 29" insbesondere im Vergleich zu einigen qualitativ leicht schwächeren Heften der Vergangenheit wieder einen Schritt in die andere Richtung da. Das Auge der Leser wird durch die zahlreichen sehr guten Graphiken gereizt, das Hirn nicht immer, aber öfter durch die Texte stimuliert.

rezensiert von Thomas Harbach, Lübeck auf SF-Radio.net