EXODUS bleibt ein außergewöhnliches Magazin

ANDROMEDA-Nachrichten 261 - Holger Marks rezensiert EXODUS 37:

Ob Hartnäckigkeit eine Tugend ist, mögen Moralisten oder Philister entscheiden. Das Hartnäckigkeit manchmal notwendig ist, um außerordentliche Ergebnisse zu erreichen, mag dagegen eine Binsenweisheit sein. Das Herausgeberteam um René Moreau, Olaf Kemmler und Fabian Tomaschek beweist eine bemerkenswerte Hartnäckigkeit. EXODUS bleibt ein außergewöhnliches Magazin. Der Versuchung aus dem Magazin ein Taschenbuch oder eine Broschüre zu machen, widerstehen sie seit Jahren.

Aber auch sie müssen Tribut zollen. Denn der Markt für Kurzgeschichten, deutsche allemal, ist nicht einer der Gefragtesten. Von Qualitätsfragen einmal abgesehen, denn nicht jede vollmundig verkaufte Anthologie mag den selbst gestellten Ansprüchen genügen.

Das Exodus-Team hat vor langer Zeit bewusst entschieden, am Magazin-Format festzuhalten, auch wenn eine Taschenbuch-Ausgabe ungleich billiger und leichter zu produzieren wäre. Und natürlich bleibt die viele Arbeit wieder an einigen wenigen, wenn nicht sogar an einer Person hängen. Das hat nun Konsequenzen. Nicht nur erschien diese Ausgabe verspätet. Auch künftig wird es weniger Ausgaben geben, nur noch drei Ausgaben in zwei Jahren. Aber was macht es aus? Was habe ich von einer häufigeren Erscheinungsweise, wenn die inhaltliche, die optische und die haptische Qualität darunter leidet? Nur Verluste! Verluste des Vergnügens und der Begeisterung, wieder eine neue Ausgabe in den Händen zu halten.

Denn auch diese Ausgabe des Magazins für „Science-Fiction Stories & Phantastische Grafik“ wartet mit allem auf, was man sich wünschen kann. Seltsamerweise nervt nicht einmal die Werbung, weil man das Gefühl hat, sie reiht sich harmonisch in das Heftkonzept ein. Es sind ausnahmslos deutsche (Klein-)Verlage, die beworben werden oder Autoren, die auch in Exodus veröffentlichen. Vielleicht ist es übertrieben und zu euphorisch: Aber die Versuchung, EXODUS als „Gesamtkunstwerk“ zu bezeichnen, ist groß.

Und natürlich kann man bei solch einem Gesamtkunstwerk ein paar Macken finden. Kleine Falten oder angededschte Ecken lassen sich bei dem umfangreichen und vielfältigen Werk kaum vermeiden. Sei es das aus meiner Sicht verunglückte und uninspirierte Gedicht über den „Großmächtigen Erdogan“ von Arnold Spree oder ein Story-Titel, der nicht ganz zum Inhalt der Geschichte passen will wie bei „Seltene Erden“ von Jan Gardemann. Aber auch das ist eine Lehre aus dem Leben: wenn einer selten Fehler macht, fallen diese wenigen sehr viel mehr auf, als wenn sich ein Fehler hinter den anderen verstecken kann.

Wie immer stehen die Geschichten im Vordergrund, die durch viele Graphiken und Bilder nicht nur umrahmt, sondern auch illustriert werden. Im Mittelpunkt dieser grafischen Opulenz steht wie immer die Galerie, dieses Mal von Mario Franke gestaltet. Dirk Berger stellt den 1962 in Leipzig geborenen Künstler vor. Franke gehört zu den Künstlern, die sich den digitalen Medien zugewandt haben und dementsprechend Computer und Software zur Komposition und Gestaltung nutzen. Dadurch entstehen opulente Bilder, die mal Landschaft und Technik, mal den Menschen und Technik verbinden, exotische Landschaften zeigen oder auch geheimnisvolle Motive mit blutendem Auge und rätselhaftem Hintergrund oder Schmetterlinge in einem Gewirr aus metallenen Kabel oder zwei sich anstarrenden Steingesichtern mit lebenden Augen oder auch Bilder, die wie Plakate zur politischen Agitation wirken. Es ist eine beeindruckende Vielfalt von Motiven und Stilen, die diese Galerie vereinigt. Trotzdem springt bei mir der Funke nicht über. Seltsam unterkühlt wirken sie, technisch, metallisch oder steinern. Es ist wenig Gefühl, sondern mehr rationale Komposition, selbst die wenigen Menschen auf den Bildern, wirken eher wie Maschinen. Vielleicht passt das zu der kühlen, menschenfeindlichen Welt einer düsteren technikorientierten Zukunftsvision, in der wenig Platz für Wärme und Emotionen ist.

In den Geschichten geht es oft um Manipulation in den unterschiedlichsten Ausprägungen.

Die beeindruckendste Studie über die Mechanismen der menschlichen Manipulation und Indoktrination liefert Dirk Arlt mit „Die Läuterung“. Die Geschichte spielt in einer postapokalyptischen Welt, in der Abweichler, sogenannten „Deviante“ zusammen mit linientreuen „Stajus“ in ein Bootcamp – Lästerungslager genannt - gesperrt werden, um eine letzte Chance zu erhalten und recht schaffende Bürger zu werden. Dabei geht es um Disziplin und Selbstoptimierung und nebenbei auch um kriegsrelevante Tätigkeiten wie die „Meisterschaft im Handgranatenweitwurf“ oder der „Bedeutung des Römerbriefes für das Staatsverständnis“. Dirk Arlt gelingt nicht nur eine glaubwürdige psychologische Studie über die Beeinflussbarkeit eines Menschen, sondern auch eine beklemmende Schilderung totalitärer Mechanismen. Nicht nur der längste, sondern auch der beste Beitrag in dieser Ausgabe.

Etwas harmloser geht es bei „JimmyAhmleth“ von Daniel Habern zu. Aus der Perspektive eines kleinen Jungen wird eine kleine Familientragödie offenbar. Da kleine Jimmy hätte aus Wut und Trotz beinahe seinen Nanny-Androiden zerstört, weil der ihm verbieten wollte, einen Freund zu besuchen. Nett und konsequent aus der Sicht des Kindes geschildert enttäuscht das harmonische Ende leider etwas.

Mit Angela und Karlheinz Steinmüller kommen dann zwei gewichtige Urgesteine der deutschsprachigen SF zu Wort. In „Upgrade für Sandra Meier“ entdeckt eine Mathematikerin in der First Class eines Flugzeuges, wie das Weltwirtschaftssystem wirklich manipuliert wird. Die „Steinmüllers“ beschreiben auf vergnügliche und ironische Weise, welche Auswirkungen Experimente am lebenden Leib der Weltwirtschaft haben können.

Thomas Kolbe hat in „Check Out“ ein neues Geschäftsmodell für die Zukunft entdeckt. Da in den dichten besiedelten Städten der Platz knapp ist und herkömmliche Hotelzimmer sehr viel Platz wegnehmen, kann man als Übernachtungsgast auch in einem „Kryo-Hotel“ nächtigen. Die Form der Beherbergung erleichtert auch die Handhabung der Gäste ungemein. Sie erfolgt mittels eines vollautomatischen Transportsystems, wie man sie von großen Lagerhallen kennt. Dumm nur, wenn dann durch einen kleinen Defekt am nächsten Morgen der falsche Man als Ehegatte aufgetaut wird. Eine sehr schöne Geschichte mit einer sehr schönen Idee, bei der nur das Ende etwas irritiert, da nicht ganz klar wir, warum die erboste Kundin nun doch mit dem falschen Mann abzieht...

Erik Simon gibt in „Das Zeichen“ einer klassischen Dämonenbeschwörung – die ja selten so verlaufen, wie es sich der Zauberer wünscht – eine ironische Wendung. Mit temporeichen Dialogen und ganz viel Witz erzählt.

Der „Krankenbesuch“, den Rolf Krohn einen Alien auf der Erde bei einem Kontrollbesuch machen lässt, war eigentlich nicht geplant. Und die unbeabsichtigte Heilung der kranken Mutter und des blinden Kindes ist auch eher ein Versehen, führt aber zu einem Umdenken bei dem Alien, der einsieht, dass das Gebot der absoluten Nichteinmischung nicht bestehen bleiben kann.

In „Schneefall“ von Arno Behrend kommen keine Menschen vor. Es sind KIs, die das Mammutprojekt stemmen, die Venus zu terraformen. Dazu reproduzieren sie sich nicht nur ständig selbst, sondern bauen auch an einem riesigen Spiegel, der die Venus verdunkeln und das CO2 gefrieren lassen soll. Dummerweise entwickeln die KIs ein Selbstbewusstsein und fragen sich, warum sie das tun sollen. Die Geschichte ist ein wenig auf Gigantismus geeicht und wie immer erweist es sich schwierig, intelligente Maschinen so darzustellen, dass sie nicht durch Menschen ersetzt werden können.

Wie ist „das Universum“ definiert? Für eine kleine Fliege, die irgendwie in die Stubenlampe gelandet ist, ist die Welt ziemlich klein und die Erkenntnis, das einzige intelligente Wesen im Universum zu sein, naheliegend. Wenn dann das Licht angeschaltet wird und die Reinigungskraft durch eine unvorsichtige Bewegung den Lampenschirm mit dem Putzmob zerstört, hat das eine erhebliche Horizont erweiternde Wirkung, wie H. D. Klein mit seiner kleinen kurzen Humoreske zeigt.

Auch „Die Wettermaschine“ von Lothar Nietsch hat mir sehr gut gefallen. In einer stimmig geschilderten postapokalyptischen Welt trifft ein Gottesmann des Vatikans auf eine Gruppe „Mechanics“, die ihre Lebensaufgabe darin sehen, alte Maschinen aus der Vorzeit wieder zum Laufen zu bringen. Durch seine Heilungskünste gewinnt der Gottesmann das Vertrauen der Mechanics und sie brechen gemeinsam auf, eine „Wettermaschine“ zu reparieren. Der gesprochene Dialekt der Mechanics - garantiert durchs Niederdeutsche beeinflusst - die Verbindung von zivilisatorischem Niedergang, Gottesglaube und einem Hauch von Nietzsche (sic!) ergeben eine sehr lesenswerte Geschichte, bei der nicht einmal das etwas absehbare Ende stört.

„Seltene Erden von Jan Gardemann hat eigentlich einen falschen Titel. Denn um seltene Erde geht es nicht. Sie sind im besten Fall der Auslöser für das skurrile Hobby eines getöteten Geologen. Ansonsten enthält die Geschichte eine klassische Beziehungstat, die für das Ermittlerteam – Mensch und Android – keine allzu große Herausforderung darstellt.

Die Geschichte vom „Weihnachtsmann“ gibt mächtige Alien-Invasoren doch zu denken. Welche allmächtige Technik, fragen sie sich in Maksym Shapiros Gedankenexperiment, muss dahinterstecken, damit alle Kinder der Erde in einer Nacht mit Geschenken versorgt werden können. Und dann bekommen sie auch noch eine DVD mit dem Film „Supermann“ in die Hände...

Für eine der ganz wenigen sekundärliterarischen Beiträge in EXODUS sorgt diesmal Dirk Alt. Er hat sich drei kleinere Literaturzeitschriften aus den Jahren 2016 und 2017 angesehen, die alle einen Schwerpunkt auf Phantastik gelegt haben, entdeckt aber leider wenig Innovationen oder zukunftsweisende Visionen, sondern eher die Scheu, sich wirklich mit dem Genre auseinander zu setzen.

Und damit ist dann die Lektüre dieser Exodus-Ausgabe fast zu Ende. Ein kleines hier nicht erwähntes Schmankerl bleibt noch. Viele, unterschiedliche aber ausnahmslos lesenswerte Geschichten liegen hinter uns. Eine wenig Erschöpfung mag sich breit machen – vielleicht auch wegen der Lektüre dieser in die Breite geratenen Besprechung. Aber es ist jedes Mal eine zufriedene und angeregte Erschöpfung. Nun heißt es wieder zu warten – oder in alten Ausgaben zu stöbern. Vergessene Schätze entdecken.

Holger Marks

in Andromeda Nachrichten 261
(SFCD e.V., April 2018, 92 Seiten A4, EUR 8,00 - ISSN 0934-3118)