Mit einem erweiterten Umfang feiert die “Exodus“ Redaktion gleich zwei Geburtstage. 90 Jahre Herbert W. Franke besteht aus einer Würdigung seines Werkes und vor allem auch seines Einflusses als Herausgeber auf die deutsche Science Fiction. Die meisten Beiträge unter anderem von Andreas Brandhorst oder Andreas Eschbach, Franz Rottensteiner oder Horst Illmer beziehen sich auf sein Science Fiction Werk, während vor allem die Eheleute Angela und Karlheinz Steinmüller auf den Höhlenforscher Herbert W. Franke eingehen, der nicht in den Tiefen des Alls, sondern unter der Erde die meisten Herausforderungen und wahrscheinlich wunderbarsten Entdeckungen gefunden hat. Eine exklusive Kurzgeschichte Frankes soll in einer der nächsten „Exodus“ Ausgaben erscheinen, so konzentrieren sich die Herausgeber mit Ralf Boldts einleitenden Worten auf das Schaffen als Computerkünstler mit einer Reihe exemplarischer Arbeiten.
H.W. Frankes Geburtstag steht aber im Schatten eines anderen Jubiläums: 30 Jahre Phantastische Bibliothek in Wetzlar. Neben einer Reihe von Geschichten, welche dieses Thema aufgreifen, sind es vor allem die Graphiken verschiedener Künstler wie Lothar Bauer, Oliver Engelhard, Mario und Thomas Franke oder Mario Hoyer, die individuell alternative „Titelbilder“ für diese Ausgabe entworfen haben. Auch wenn die Zukunft düster ist, scheint es so, als wenn Bücher und keine E- Books immer eng mit der Menschheit verbunden sein werden. Dirk Alt leitet mit „Arkanes Wissen- phantastische Bibliotheken“ diese besondere Galerie verschiedener Künstler vor allem auch in Kombination mit dem schönen ausdrucksstarken Titelbild dieser Ausgabe ein.
Für viele der hier gesammelten Geschichten ist das aus Büchern stammende Wissen fast ein mystisches Gut, das den Zusammenbruch der Zivilisation unter allen Umständen überleben muss. Christian Endres „Wölfe lesen nicht“ erinnert zu Beginn an einen postnuklearen Italo Western mit einem überlebenden Bodyguard, der das Wissen der Menschheit in einen Kristall um seinen Hals gebannt zum Bunker eines inzwischen verstorbenen exzentrischen Milliardärs bringen soll. Die Pointe enthält eine bitterböse Wendung, in welche der Titel solide eingebaut worden ist. Ein zufrieden stellender sehr stringenter Auftakt dieses Themenbandes.
Christian Weis beginnt mit der Flucht seiner Protagonisten aus einer Siedlung in „Durch die Zeitwüste“ mit einem ähnlichen Sujet wie Christian Endres. Wissen muss bewahrt werden. Dann schlägt der Autor allerdings den Bogen zu Außerirdischen und versteckten Raumschiffen. Er erhöht kontinuierlich das Tempo und überschlägt sich mit dem eher offenen Ende ein wenig zu sehr. Wahrscheinlich hätte dem Text neben dem eher metaphorischen, aber
nicht konsequent zu Ende gedachten Hinweis auf die Zeitwüste eine Streckung gut getan. Die Charaktere wirken eher pragmatisch entwickelt und den einzelnen Wendungen dieser längeren Geschichte, aber leider nicht Novelle fehlt es an Tiefe, aber nicht an positiv gesprochen bunt zusammen gewürfelten Ideen.
Überdreht und vielleicht hinsichtlich der Auflösung ein wenig zu simpel präsentiert sich Victor Bodens „Immer diese Zeitreisegeschichten“ mit der die Erde immer noch suchenden Alexa. Sie landen auf dem Planeten des Bibliothekars, der sich an einer bestimmten Art von Geschichte verschluckt hat. Nicht ganz ernst zu nehmen mit vor allem hinsichtlich der Dialoge pointierten Ideen und einer fast skurrilen Überzeichnung nicht nur der Welt, sondern der Wesen, denen die Protagonisten begegnen wirkt nur das Ende ein wenig zu glatt, zu perfektioniert und damit auch zu folgerichtig. Der Weg dahin ist allerdings eines der farbenprächtigsten Lesevergnügen dieser „Exodus“ Ausgabe.
Bücher findet man im All oder auf dem Meeresgrund. In den beiden längeren Geschichten „Der Raum zwischen den Worten“ von Uwe Hermann und „Relikt aus phantastischen Zeiten“ von Jacqueline Montemurri sind die Bücher Erben nicht nur der Menschheit. Während die Autorin ihren Text sehr konsequent zu Ende spinnt, überzeugt Uwe Herrmann mit einer interessanten Varaition des Erbes der Fremden, die an Bord ihres Raumschiffs auf dem Mars stranden und den Menschen scheinbar ihren Wissensschatz hinterlassen. Uwe Hermann kann seinen Text allerdings nicht konsequent genug zu Ende bringen und verweigert nicht als einziger Autor dieser „“Exodus“ Ausgabe eine klare Pointe. Unabhängig von dieser Schwäche lassen sich die beiden Storys ausgesprochen gut lesen
Während der überwiegende Teil der Autoren Bücher generell als positiv sehen und den zukünftigen Generationen ins Stammbuch schreiben, das das literarische Erbe in welcher Form auch immer erhalten werden muss, zeigen andere Schriftsteller in unterschiedlicher Hinsicht die Risiken auf. In der letzten Story dieser Ausgabe weist Fabian Tomaschek darauf hin, dass man aus den Büchern in einem totalitären System nicht nur den Widerstand erlernen kann, sondern welche gefährlichen Krankheiten nicht im übertragenen, sondern tatsächliche Sinne transferiert werden können. Es ist eine dunkle, zynische, stilistisch ein wenig sperrige Geschichte, die vor allem auf der Charakterebene nicht gänzlich zufriedenstellt.
Die letzte der längeren Geschichten ist im Grunde mystischer Horror, der in Norddeutschland spielt. Michael Siefener „Eine Bibliotheksphantasie“ ist eine Odyssee zwischen kleinen Städten eigentlich nach der besonderen Entdeckung entweder in einem der kleinen, unscheinbaren Antiquariate oder schließlich in den literarischen Schätzen eines alten Adelsgeschlechts. Der sympathische Erzähler nach dem Erhalt einer seltsamen Erbschaft macht sich auf eine Suche, die ihn wie es sich für Horror gehört zu einem gänzlich anderen Ziel führt. Die Story ist gut geschrieben, die morbide Atmosphäre mit Anspielungen und keinen Exzessen überzeugt bis zum Ende, das ein wenig zu stark konstruiert erscheint und vor allem dem bisherigen Weg nicht gerecht wird.
Einige Texte spielen in und um die phantastische Bibliothek Wetzlars. Wolf Wellings „Schutzengel“ könnte auch in Anspielung an Wim Wenders Film „Der Himmel über Wetzlar“ heißen. Es beginnt mit einem Con in den Räumen der phantastischen Bibliothek und einer Anspielung auf „Fahrenheit 451“ mit einem offensichtlich erkennbaren Ebenbild des amerikanischen Präsidenten und endet mit der Bürokratie hinter den Himmelspforten. Wellings Geschichte beginnt dunkel und getragen, wird dann mit dem Operationssaal bizarr, bevor er den Bogen zu den dramatischen Ereignissen zurückschlägt und nachweist, dass niemand seiner mittelbaren Vergangenheit in welcher Form auch immer entkommen kann. Der Einbau der Bibliothek ist nahtlos und das Tempo der Geschichte ansprechend hoch.
Manfred Borchard ist mit dem Nachdruck seiner Kurzgeschichte „Die Nietzsche- Druckmaschine“ vertreten. Thomas Frank illustriert den kurzweilig zu lesenden Text, der Borchards surrealistische Ideen mit jedem Menschen ein Nietzsche Buch unterstreicht, wobei die Angst vor der Atomkrieg zu sehr auf die siebziger und achtziger Jahre anspielt. Sie wirkt vor allem aufgesetzt. Alleine die Idee dieser gigantischen Druckmaschine und ihrer einzigartigen Mission hätten als Unterhaltung ausgereicht.
Tino Falke zeigt die bittere Wahrheit auf, wenn Eltern aufgrund literarischer „Erfolge“ und Populismen ihre Kinder mit seltsamen Namen strafen. „Mandragora Schmidt gegen den Kristall der Zeit“ ist eine bitterböse Abrechnung mit diesen Trends und zeigt auf, welche Folgen sie in den unschuldigen wie hilflosen Kindern hinterlassen.
Die kürzeren Texte dieser Ausgabe gehören eher zu den schwächeren Arbeiten. Uwe Post „Für immer halb elf“ entwickelt auf der einen Seite das Szenario einer zeitlosen Bibliothek mit einer besonderen „Schreckschraube“ als Bibliothekarin und der lese- und Schreibunwilligen Generation, auf der anderen Seite gibt es einen belehrenden offenen Abschluss, der unvorbereitet erscheint. Hans Jürgen Kugler hält sich in „Die Gedanken sind frei“ eher an dem Motto fest und versucht stilistisch ambitioniert, inhaltlich verspielt, aber wenig konsequent verschiedene Bilder aneinander zu reihen, die Traum und Realität miteinander verbinden. Auch hier wirkt der Plot eher hemmend und beide Geschichten wirken eher improvisiert als ausdrücklich konzipiert.
"Exodus 36" überzeugt nicht nur durch die Fokussierung der Geschichten auf ein einzelnes Thema. Die Qualität der einzelnen Arbeiten ist überdurchschnittlich hoch und nicht eine Story fällt qualitativ ab. Neben der durch die verschiedenen Künstler so abwechslungsreichen Galerie sind es vor allem die zahlreichen, vermehrt auch farbigen Graphiken verschiedener Zeichner wie Thomas Franke, Lothar Bauer, Thomas Hofman, Jan Hillen oder Hubert Schweizer, die diese umfangreichere Ausgabe von „Exodus“ aus den qualitativ schon ansprechenden letzten Nummern beginnend mit dem interessanten Titelbild positiv und weit herausragen lassen. Wer gerne de “ Welten einmal kennenlernen möchte, sollte zu dieser überdurchschnittlichen Ausgabe greifen und sich in die Welt der Bücher durch die Kraft der Kurzgeschichten entführen lassen. Nicht aus jeder Story wird der Leser zurückfinden, aber das Risiko sind alle Texte wert.
Thomas Harbach auf:
http://www.robots-and-dragons.de/buchecke/14026-exodus-36