Typ 4
von Nicole Hobusch
Seit etwa zwanzig Minuten beobachtete Zoe den Supermarkt. Das Gebäude sah aus wie eine verschmutzte Schuhschachtel. Die Wände grau, das Dach flach. Beim näheren Betrachten erkannte man loses Mauerwerk, ein Loch, eingeschlagene Fensterscheiben. Selbst die Graffiti waren verwittert. Eine dünne Pflanze, wahrscheinlich Efeu, kroch trotzig darauf zu. Dabei war der Boden hier verseucht. In ein paar Wochen würde das Ästlein abgestorben sein, braun und verschrumpelt, wie alles andere.
Tot. Außer einigen trockenen Blättern auf der Straße bewegte sich nichts. Man konnte das sanfte Rascheln hören, so still war es. In den Außenbezirken, nicht weit entfernt von der Grenze, spürte man manchmal den Wind. Hier war es nicht sicher, denn mit dem Wind kamen die Stürme. Die Temperatur war in den letzten Tagen beunruhigend gesunken, während das Kribbeln zunahm. Ein Elektrosturm wäre eine Katastrophe. Hier gab es keine Bunker. Die Leute, die so weit draußen gelebt hatten, hatte man sterben lassen.
Sie wischte sich die Nase am Ärmel ab und ignorierte das Kratzen des Stoffes. Mühsam wechselte sie die Position und versuchte, die Beine zu strecken. Ihr linker Fuß war durch die Kauerhaltung eingeschlafen. Sie bewegte die Zehen im Schuh und merkte, wie das Blut gleich einem aggressiven Ameisenschwarm zurückkehrte. Es reichte. Sie hatte hier lange genug gehockt. Jetzt oder nie.
Lautlos verließ sie ihr Versteck hinter den Büschen. Zwei Schritte, und sie hatte ihre sichere Deckung verlassen und stand auf dem Bürgersteig. Geduckt verharrte sie einen Moment, dann rannte sie, so schnell sie konnte, über die Straße. Nicht mal zweispurig. Hier war schon vor dem Kollaps nicht viel los gewesen. Sie konnte von Glück sagen, wenn sie etwas im Supermarkt fand, vielleicht ein paar Konserven.
Sie erreichte die Mauer des Gebäudes und presste sich dagegen. Unter ihrer linken Hand bröselte der Putz. Sie wischte sie an der Hose ab. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Vorsichtig versuchte sie, durch die verschmierten Schaufenster in den Laden zu blicken. Irgendwer hatte »Tom liebt Eva« in den Schmutz geschrieben. Man konnte kaum etwas erkennen. Sie wischte Tom weg und sah im Inneren Chaos. Umgekippte Regale, zugemüllte Gänge. Spuren von Zerstörungswut und Vandalismus. Wie dumm. Wenn man damals geahnt hätte, wie knapp die Ressourcen waren und was für Preise man damit erzielen konnte, wäre man vielleicht anders mit der Einrichtung umgegangen. Vielleicht auch nicht. Viele dachten selbst jetzt nicht nach. Ein Stück von ihr entfernt war das Fenster eingeschlagen. Perfekt. Ohne zu zögern, schob sie sich geräuschlos durch die Lücke und achtete darauf, das zersplitterte Glas nicht zu berühren. Der Geruch von Schimmel und abgestandenem Wasser schlug ihr entgegen. Sie zog sich ihren Schal vor Mund und Nase, rückte ihn kurz hin und her, bis die Löcher darin verdeckt waren.
Der Vinylboden fühlte sich fremd unter ihren Füßen an. Sie war damals ein Kind gewesen und konnte sich kaum an einen anderen Untergrund als Erde und Asphalt erinnern. Es federte merkwürdig, als sie weiterging. Die Kasse stand weit offen und war leer, überzogen von einer dicken Staubschicht. Offensichtlich hatte jemand das Geld in den ersten Tagen mitgenommen. Heute schleppte niemand solch unnützen Ballast mit sich herum. Sie achtete auf jeden ihrer Schritte, um auf nichts zu treten. Supermärkte waren gefährlich und sie betrat sie nur, wenn es unbedingt sein musste.
Schnell kontrollierte sie die Gänge. Ein erster Blick reichte aus, um ihr zu sagen, dass hier nicht viel zu holen war. Dennoch suchte sie alles ab. Und wurde belohnt. Ein Regal war umgekippt und gegen das dahinterliegende gestürzt. Das gesamte wacklige Konstrukt lehnte an einer Wand. Unter dem Regal lagen gut verborgen zwei unversehrte Energy-Packs. Die schmeckten abscheulich, aber selbst nach knapp dreißig Jahren waren sie noch essbar. Sie ging auf die Knie und krabbelte vorwärts, presste sich auf den Boden und streckte den Arm unter dem Regal-brett hindurch. Ihre Fingerspitzen bekamen die Packs zu greifen. Hastig öffnete sie den Rucksack und räumte alles hinein. Der Wasservorrat ging allmählich zur Neige. Vielleicht gab es hier ja ... Da. Ein Geräusch. Sie erstarrte mitten in der Bewegung und lauschte angestrengt. Ein tiefes Summen, das abnahm und wieder anschwoll. Forschend drehte sie langsam den Kopf. War das Elektrizität? Das bedeutete, dass sie ihren Shooter aufladen könnte. Das wäre noch besser als Nahrung. Sie musste es riskieren. Ganz schnell, und dann sofort verschwinden.
Je weiter sie in den Laden vordrang, desto deutlicher wurde das Geräusch. Ein süßlicher Geruch vermischte sich mit der staubigen Luft, den sie sogar durch ihren Schal hindurch wahrnehmen konnte. Verdammt. Getrieben von einer bitteren Vorahnung, ging sie Schritt für Schritt vorwärts. Unter ihren Schuhsohlen knirschte Glas. Das Summen nahm an Lautstärke zu und als sie um die Ecke des Regals linste, wurde ihr klar, was sie gehört hatte. Sie sah zuerst den Kopf. Er lag in einer unnatürlichen Haltung verdreht. Vom Gesicht war nicht mehr viel übrig. Vertrocknete, lange Haare standen darum herum ab. Das linke Bein war ab dem Knie durchtrennt. Und überall wimmelte es von Fliegen. Sie schwirrten über dem Leichnam hin und her und erzeugten dabei das Geräusch, das lauter und leiser wurde, je nachdem, in welche Richtung der Schwarm sich bewegte. Die Frau lag auf dem Rücken und es wurde sofort deutlich, woran sie gestorben war. In ihrem Brustkorb klaffte ein breites Loch. Jemand hatte sie erschossen und jetzt hatten die Insekten den Job übernommen, die Wunde stetig zu erweitern. Wie lange lag sie hier? Wahrscheinlich erst ein paar Tage. Das war gar nicht gut.
Zoes Blick fiel auf die Schuhe der Frau. Braune Stiefel mit Stahlkappe. Moment. Sie betrachtete die Kleidung. Verdreckt und voller Blut, doch das Abzeichen an der linken Schulter war deutlich zu erkennen. Eine Wächterin. Abtrünnige. Zoe ging in die Knie und inspizierte die Wunde näher. Jetzt sah sie die Kabelreste, die aus dem Loch ragten. Da hatten ihr die Modifikationen wohl nicht genutzt. Zoe spuckte aus. Geschah ihr recht, dass sie tot war.
Wieder betrachtete sie die Stiefel. Mit etwas Glück passten sie. Es wäre schon Ironie, die Schuhe einer Dienerin des Kollektivs zu tragen. Rasch bückte sie sich und begann damit, die Schnürsenkel zu öffnen. Sie bemühte sich, nicht auf das empörte Summen der Fliegen zu achten. Um die Stiefel von den Füßen zu bekommen, war es wichtig, mit der richtigen Kraft zu ziehen. Sie hatte es einmal erlebt, dass der Fuß sich dabei gleich mit vom Bein gelöst hatte und ihn danach zu befreien, war eine ekelerregende Arbeit, die sie sich ersparen wollte. Sie verdrängte den Gedanken, ruckte ein paarmal und hielt den ersten Schuh in der Hand. Mit einem dumpfen Geräusch schlug der Fuß auf dem Boden auf. Der Insektenschwarm geriet in Wallung. Sie lauschte, ob sich etwas anderes regte, und machte sich rasch am zweiten zu schaffen. Besser, man verbrachte nicht viel Zeit in der Nähe von Leichen. Sie erregten Aufmerksamkeit. Zoe zog am Schuh, doch diese Seite saß fester als die erste ... Der gesamte Körper schaukelte mit. Als Antwort summten die Fliegen wütender ...
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© Nicole Hobusch
Erstveröffentlichung für EXODUS 44
Illustration © David Staege