Mit „Exodus 37“ liegt die Winterausgabe 2017/ 2018 vor. Wie die Herausgeber in ihrem Vorwort herausstellen, soll Qualität vor Quantität stehen, so dass eine Art Zwei-Jahres-Rhythmus mit drei Ausgaben angestrebt wird. Angesichts der Professionalität, mit welcher das Magazin seit vielen Jahren wiedererscheint, kann der Leser diese regelmäßige Unregelmäßigkeit wahrscheinlich ohne Probleme verkraften.
Daniel Habern eröffnet mit „Jimmy Ahmleth“ den 2018er „Exodus“ Jahrgang. Ein Junge wartet für einen Streich auf die Bestrafung durch seine Eltern. Solide geschrieben kann der Autor aber dem Roboter/ Androiden Genre keine wirklich neue Idee hinzufügen. Dafür ist die graphische Gestaltung der Geschichte durch Anna Hermes gut gelungen und beschwört einige unheimliche Kindheitserinnerungen im Leser wieder herauf.
Die längste Geschichte stammt von Dirk Alt. Der Titel „Die Läuterung“ ist auch Programm. In einem totalitären Zukunftsstaat, der politisch eher ambivalent extrapoliert wird, gibt es für die abweichelnden Elemente der Jugend als erstes Erziehungslager, die in ihrer Ausrichtung sowohl an die Hitlerjugend wie auch die Äquivalente in den verschiedenen Formen des Kommunismus erinnern. Dirk Alt kann im Verlaufe seiner Novelle aber nicht abschließend herausarbeiten, ob es sich um eine Mahnung vor einem Totalitarismus handelt; eine Satire auf die damaligen und in einigen Ländern leider auch wieder gegenwärtigen Strömungen oder eine reine Unterhaltungsgeschichte mit einem sozialkritischen Funken. Das große Problem liegt in der abschließenden Konfrontation zwischen Vorgesetzten und lange Zeit anarchistischem Jugendlichen. Ist sein Wille wirklich gebrochen und erkennt er, dass er nur mit Eigenverantwortung in diesem skizzierten Staat leben und überleben kann? Oder handelt es sich um einen elementaren Teil einer Show, die unterstreichen soll, dass der freie Wille sich nicht derartig formen, unterdrücken oder verzerren lassen kann? Die Geschichte ist ohne Frage für Interpretationen in beide Richtungen offen. Bis dahin folgt Dirk Alt eher bekannten Mustern aus zahlreichen Büchern und Filmen, in denen die Freigeister schließlich gebrochen wird. Der einzige Unterschied ist das finale letzte „Duell“, das mit einer Niederlage endet, die schließlich durch den direkten Vorgesetzten zu einem ironischen Pyrrhussieg geändert wird. Die Charaktere sind vielleicht zu glatt beschrieben worden. Im Verlaufe der Handlung handelt Dirk Alt alle möglichen Szenarien in diesem Zeltalter für die zu reifende Jugend inklusiv Gruppenarbeiten und dem Pflanzen des eigenen kleinen Baums als Symbol eines geläuterten Lebensabschnitts ab, der Funke will aber nicht wirklich überspringen. Zu viele Fragen bleiben wie eingangs erwähnt offen, auch wenn der Autor impliziert, dass nur die Aufrechten in diesen staatlich geordneten „Garten“ kommen und alle unehrenwerten Elemente wie Kleinkriminelle, Denunzianten und schließlich auch Abweichler direkt in die härtere Form der Erziehungslager – ein Exkurs erinnert nicht wenig an die Konzentrationslager der Nationalsozialisten nach dem zynischen „Arbeit macht frei“ Motto – abgeschoben werden.
„Upgrade für Sandra Meier“ der beiden Steinmüllers könnte eine Satire sein, wenn nicht manchmal die Realität die finanzmathematischen Thesen mancher Programmierer eingeholt hätte. Vielleicht haben sie nicht die globale Finanzkrise ausgelöst, die auf einem unbändigen, inzwischen von der Realität ohne Schlagzeilen eingeholten Drang nach grenzenloser Risikoloser – ironisch gemeint – Rendite basiert. Aber mit pointierten Dialogen und einer Karikatur auf die Herren/ Damen in den Nadelstreifenanzügen zeigen die beiden Autoren auf die immer noch klaffenden Wunden eines Systems, das auf dem Prinzip Augen zu und durch basiert.
Thomas Kolbes „Check Out“ zielt vielleicht nicht in die gleiche Richtung, aber das Chaos in Hotels wird auf eine ironische Art und Weise auf die Spitze getrieben. Beide Texte vereint, dass sie Strömungen der Gegenwart aufnehmen und bis zur Farce auf die Spitze treiben, wobei der kritische Unterton im Kontext der jeweiligen Story erhalten bleibt. Diesen schmalen Grat zwischen Kritik und Satire konnte Dirk Alt in „Die Läuterung“ nicht so überzeugend herausarbeiten wie es Thomas Kolbe bzw. Angela und Karlheinz Steinmüller in ihren kürzeren, aber gehaltvolleren Geschichten gelungen ist.
Rolf Krohns „Krankenbesuch“ und Arno Behrends „Schneefall“ nehmen sich alt bekannten Themen der Science-Fiction auf eine originelle, unterhaltsame Art und Weise an. Beide Geschichten präsentieren ihre Prämissen „First Contact“ und „Terraforming“ aus Sicht der außerirdischen Besucher bzw. der unfreiwilligen Opfer dieses umfangreichen Prozess. Dabei schmelzt Rolf Krohn seinen Plot auf die Begegnung zwischen dem Fremden und einem blinden Jungen bzw. einer kranken Frau ein. Will der Leser diese Story gedanklich erweitern, dann könnte er in der menschlichen Geschichte Vorbilder finden. Aber der Autor beschreibt den Interessenkonflikt hinsichtlich einer Art Alien Erster Direktive überzeugend und emotional nachvollziehbar. Arno Behrends „Schneefall“ beschreibt die Begegnung „fremder“ Intelligenzen – sie bauen oder aus ihrer Sicht kreieren gigantische Flugplattformen, auf denen unter anderem noch gigantischere Platten produziert bzw. transportiert werden – mit den HAVOVs in den Wolken der Venus. Erst nach und nach offenbart der Autor in dieser sehr gut begleitend von Ulf Bendick illustrierten Geschichte den Hintergrund des Szenarios und zeigt auf, welchem Gewissenskonflikt diese Helfer unterlegen. Das Ende ist fatalistisch wie konsequent. Vor allem präsentiert der Autor nicht nur den Terraformingprozess aus Sicht der eher zwangsverpflichteten Helfer, sondern entwirft ein großes Szenario, wie das unwirtliche Klima der Venus mit einem gigantischen Plan unter Kontrolle gebracht werden kann.
Irgendwo zwischen bekannten Ideen – die Nachfahren der untergegangenen menschlichen Hochkultur untersuchen technologische Überreste – und einem religiösen Überbau bewegt sich Lothar Nietschs „Die Wettermaschine“. Es ist auch eine der wenigen Geschichten, in denen die graphische Begleitung die rückblickend nicht überraschende Pointe vorwegnimmt. Solide entwickelt mit den ihren Aufgaben entsprechenden Ständen, einem Außenseiter nicht nur als Botschafter Gottes, sondern als Mittler zum Leser und einem atmosphärisch gut aufgebauten Plot unterhält die Story unabhängig von der vielleicht zu pragmatischen, zu einfachen Pointe überzeugend gut.
Die letzte der längeren Arbeiten ist Jan Gardemanns Krimi „Seltene Erden“. Ein Mann wird ermordet, zwei Frauen sind die einzigen Tatverdächtigen. Der erfahrene Romanautor mischt eine Reihe von eher bekannten Ideen – ein Roboterandroide ist der Partner des ermittelnden Kommissars, das Versteck der Tatwaffe ist nicht unbedingt aus kriminaltechnischer Sicht originär, wenn auch im übernommenen Sinne originell- , ohne dass eine echte Spannungskurve durch die beiden so unterschiedlichen Tatverdächtigen ohne Alibi Nachhaltig wie überzeugend aufgebaut wird. Solide Unterhaltung mit einem nicht gänzlich passenden Titel, denn es ist vor allem eine bestimmte Froschart in einem Gebiet mit seltenen Erden, welche im Mittelpunkt der Handlung steht.
Erik Simons „Das Zeichen“ ist eine Parodie auf die clevereren Dämonenbeschwörer. Aus dem altbekannten Thema macht der Autor dank des ironischen Schreibstils, der direkten Ansprache des Lesers und dem Versatzspiel mit einigen Klischees des Genres kurzweilige Unterhaltung. „Das Zeichen“ ist der Auftakt einer Abfolge von interessanten kurzweiligen Kurzgeschichten.
H.D. Kleins „Das Universum“ kann sich dabei nicht wirklich entscheiden, ob sie Fisch oder Fleisch sein will. Der Schlusssatz ist ein geflügeltes Wort, ansonsten folgt der Leser dem erkennbaren Leben einer Fliege eher distanziert und zu wenig überrascht. Bei den Kurzgeschichten ragt „Weihnachtsmann“ von Maksym Shapiro deutlich heraus. Die Begegnung zwischen den Außerirdischen und einem jungen Mädchen in Kombination nicht nur mit der Weihnachtsmannlegende, sondern einem Exkurs in den Bereich der visualisierten Comics liest sich nicht nur wegen der großartigen, so doppeldeutigen Dialoge und dem kulturellen Missverständnis ausgesprochen gut. Auch wenn der Leser die Pointe relativ früh erkennen kann, überzeugt der Text vor allem, weil der Autor elegant mit den „Klischees“ und dem Kinderglauben spielt, dabei die Wechselwirkung im Auge behält und seine Geschichte rechtzeitig abschließt, bevor der grundlegende Gag zu lange zu Gast ist.
Dirk Alt blickt in seinem zweiten, dieses Mal sekundärliterarischen Beitrag auf drei 2017 veröffentlichte Sonderausgaben von Literaturmagazinen, die sich mit der Science-Fiction auseinandergesetzt haben. Dabei wirkt seine Vorgehensweise ein wenig zu arrogant und wirkt wie aus der Perspektive der Literaturkritik auf eine deutsche Science-Fiction aus den achtziger Jahren. Selbst Perry Rhodan muss sich dem Klischee unterordnen.
Sehr viel besser sind die einführenden Worte zu den Arbeiten Mario Frankes, der mit seinen Computerbildern inklusiv des sehr überzeugenden Titelbildes den Schwerpunkt des graphischen „Exodus“ Teil bildet. Die Auswahl der Bilder zeigt die Bandbreite von Mario Frankes Schaffen, das er selbst in seinen in Dirk Bergers eingebauten Aussagen künstlerisch sympathisch relativiert. Mario Frankes Bilder sind aber im Grunde nur der Höhepunkt einer dieses Mal optisch noch mehr als zuletzt überzeugenden „Exodus“ Ausgabe. Hinzu kommen einige illustrierte lyrische Beiträge.
Im Gegensatz zu den letzten „Exodus“ Ausgaben sind es dieses Mal vor allem die kurzen Texte, die pointierten längeren Miniaturen, die im direkten Vergleich mit den längeren Geschichten überzeugen. Es ist schade, dass ausgerechnet der längste Beitrag nicht unbedingt im positivsten Sinne die meisten Fragen offenläßt, so dass abgesehen von der wieder sehr überzeugenden Qualität der Illustrationen textlich der „Exodus“-Winter ein wenig unterkühlt daherkommt.
Thomas Harbach auf Robots & Dragons
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